Erbe-Kategorien der UNESCO: Forschung und Outreach

Thomas Schmitt forscht seit den 2000er Jahren zum Welterberegime und zum Konzept des immateriellen Kulturerbes der UNESCO, in einem vorwiegend qualitativ-ethnographischen Forschungsdesign. Er war einer der ersten Wissenschaftler, der das Scale-Konzept (und den Multi-Level-Governance-Ansatz) systematisch in die Erforschung des Welterbesystems einführte. Dies spiegelt sich auch im Aufbau der Monographie Schmitt 2011 wider. In dieser Arbeit wurden die globale Ebene des Welterbesystems (Kap. 5), die dazwischen liegenden nationalen Instanzen (Kap. 6) und - in einer exemplarischen Fallstudie - ein lokales Setting des Welterbesystems (Kap. 7) analysiert und letzteres mit eigenen Befunden an anderen Stätten verglichen. Der theoretische Hintergrund des Scale-Konzepts wurde in Kap. 2.4.4 enwtickelt. In Kap. 9 wurden die wechselseitigen Interaktionen zwischen Institutionen und Bodies auf verschiedenen Ebenen sowie skalenbezogene politische Kulturen untersucht.

In Schmitt 2008 wurde das Konzept eines skalenhybriden sozialen Akteurs eingeführt, das sich als idealtypische Verallgemeinerung auf den Befund bezieht, dass der international bekannte Schriftsteller Juan Goytisolo sowohl auf lokaler Ebene (in der Stadt Marrakesch) als auch auf globaler Ebene (im Zusammenspiel mit der UNESCO) eine herausragende Rolle bei der Unterschutzstellung des Platzes Jemaa el Fna als immaterielles Kulturerbe spielte. Schmitt 2017 veranschaulichte das mögliche Verhältnis von Konfliktlinien und Maßstäben bei der Positionierung von Akteuren innerhalb des Welterbesystems.

In der Monographie Schmitt 2011 (siehe auch Schmitt 2009, Kap. 2; und Schmitt 2011a) wurde der Cultural Governance-Ansatz (gegenüber dem Heritage Governance als Spezialfall betrachtet wird) entwickelt. Die Studie fragte des Weiteren systematisch danach, inwiefern verschiedene Ansätze der Regimetheorie der Internationalen Beziehungen auf das Welterbesystem angewendet werden können (Schmitt 2011, Kap. 2.5 und 9.4.; siehe auch Schmitt 2015). Die Studie diskutierte ebenso, inwieweit neogramscianische Ansätze in den Internationalen Beziehungen hilfreich sind, um die Rolle der UNESCO als „weicher Hegemon“ zu verstehen (vgl. Schmitt 2011, Kap. 2.4.3, Kap. 5.1 und 9.6 sowie Schmitt 2015).

- In Kap. 9.2.4 wurde die Rolle der Liste des gefährdeten Welterbes innerhalb des Welterbesystems reflektiert (vgl. auch Schmitt 2009, Kap. 4.6).

Die Analyse und Interpretation der globalen Ebene des Welterbesystems basierte auf einer ethnographischen Forschung zu Sitzungen des Welterbekomitees (in Schmitt 2011 insbesondere des Sitzungen 2006 und 2007), Interviews und informellen Gesprächen mit Mitarbeiter:innen und Vertreter:innen von UNESCO, ICOMOS, IUCN sowie mit Delegierten und Beobachtern verschiedener Länder oder NGOs. Die Verknüpfung von ethnographischer Interpretation mit sozial- und politikwissenschaftlichen Theorien und kulturwissenschaftlichen Ansätzen ist eine der Stärken der Arbeit in diesem Forschungsfeld.

Der Beitrag Schmitt 2008 (siehe auch Schmitt 2011, Kap. 8; Schmitt 2006) rekonstruiert eine wichtige Etappe in der Entstehung des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz des immateriellen Kulturerbes von 2003, nämlich die Entstehung des UNESCO-Programms der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Kulturerbes der Menschheit, welches rückblickend ein Vorprogramm zum UNESCO-Übereinkommen von 2003 darstellt. Wie anhand von schriftlichen und mündlichen Quellen gezeigt werden konnte, wurde dieses Programm (und damit auch das Übereinkommen von 2003) wesentlich durch eine Initiative des spanischen Schriftstellers Juan Goytisolo angeregt, den Platz Jemaa el Fna in Marrakesch als „mündliches Erbe der Menschheit“ durch die UNESCO zu schützen. Schmitt 2005 (siehe auch Schmitt 2011, Kap. 8.2) analysierte die Veränderungen der sozialen und kulturellen Praktiken auf dem Jemaa el Fna-Platz aufgrund von Modernisierungsprozessen, internationalem Tourismus und der UNESCO-Proklamation, und enthält auch einige generelle Bemerkungen zur Frage der Authentizität kultureller Praktiken.

In Schmitt 2011, chap. 7 (siehe auf Französisch auch Schmitt 2008a) wird die jüngste Transformation der Welterbe-Kulturlandschaft M'zab-Tal in der algerischen Sahara analysiert.

Schmitt 2022 befasst sich mit einer Reflexion der Kommodifizierung von (Welt-)Erbe aus anthropologischer Sicht.

Schmitt 2022a reflektiert das Konzept des Kulturerbes, auch als Grundlage für die eigene Lehre an der Universität Heidelberg (siehe auch Schmitt 2011: Kap. 3).

 

Literaturangaben (zitiert):

Schmitt, T. (2022): The Commodification of World Heritage: A Marxist Introduction. In: M.-T. Albert, R. Bernecker, C. Cave, A. Claudia Prodan and M. Ripp (eds.): 50 Years World Heritage Convention: Shared Responsibility – Conflict & Reconciliation. Cham: Springer International; pp. 377–389.

Schmitt, T. (2022a): Streitwert Kulturerbe. Aus dem Speicher- ins Funktionsgedächtnis. In: Ruperto Carola. Forschungsmagazin (19), pp. 116–125. Online:  https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/rupertocarola/article/view/24514/18402

Schmitt, T. (2011): Cultural Governance. Zur Kulturgeographie des UNESCO-Welterberegimes [engl.: Cultural Governance. Towards a Cultural geography of UNESCO’s World Heritage regime] (Series Erdkundliches Wissen vol. 149), Stuttgart: Franz-Steiner publishing (452 pages)

Schmitt, T. (2011a): Cultural Governance as a research framework (= MMG working paper series 11-02) Göttingen: Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (56 pp.).

Schmitt, T. (2015): UNESCO as a Red Cross or as a notary of World Heritage? Structures, scale-related interactions and efficacy of UNESCO’s World Heritage regime (= MMG working paper series 15-05). Göttingen: Max Planck Institute for the Study of Religious and Ethnic Diversity (43 pp.)

Schmitt, T. (2009): Global Cultural Governance. Decision Making About World Heritage Between Politics and Science, in: Erdkunde Jg. 63 vol. 2: 103-1.

Schmitt, T. (2008): The UNESCO Concept of Safeguarding Intangible Cultural Heritage: Its Background and Marrakchi Roots, in: The International Journal of Heritage Studies 14 (2) 2008: 95-111.

Schmitt, T. (2008a): Protection du patrimoine culturel et transformation socioculturelle: la «vallée du M’zab ». Un site classé patrimoine mondial en Algérie, in: H. Popp (éd.): Les pays du Maghreb. Contributions de la géographie humaine allemande, Bayreuth: 38-49

Schmitt, T. (2006): Die UNESCO und der Platz Jemaa el Fna in Marrakech: Zur Genese und Regulierung eines Konzepts zum globalen Schutz immateriellen Erbes der Menschheit, in: Geographische Zeitschrift 93 (4) 2005: 237-253

Schmitt, T. (2006a): Jemaa el Fna Square in Marrakech – Changes to a Social Space and to a UNESCO Masterpiece of the Oral and Intangible Heritage of Humanity as a Result of Global influences, in: The Arab World Geographer Vol. 8 (4) 2005: 173-195